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Gleichgültig? Nimm Dir Zeit!

Die nachfolgende Geschichte wurde berichtet von Pfr. Theo Sorg aus Stuttgart.

Für die Mitarbeiter: Sicherlich gibt es auch in unserer Jungschar Kinder, die unsere Liebe und Zuwendung suchen, die sich freuen, wenn sich jemand Zeit nimmt und zuhört. Diese Zeit wird nicht umsonst sein.

Für die Kids: Es gibt immer wieder Kids, die ausgestoßen oder ausgelacht werden. Aber diese würden sich gerade über Deine Freundschaft freuen. Denk einmal darüber nach.


Eines Abends auf einem Zeltlager zogen wir spiel- und kampfesmüde heimwärts. Neben mir ging ein Junge der bisher auf der Freizeit nicht viel gesprochen hatte. Er war einer von denen, die nicht gerne reden, aber dafür mit umso größerem Eifer bei der Sache sind. Ein schmächtiger Bursche war es, mit blondem Haarschopf und lebhaften Augen.

„Hast du auch schon einmal deinen Eltern geschrieben?" fragte ich ihn ganz beiläufig „Ach nein. Ich schreibe nicht." „Warum nicht ? Du hast doch gewiss deine Eltern lieb ?" „Nein." Nun verhielt ich meinen Schritt. Ein Junge sagte das mit unbewegtem Gesicht ? Das war mir noch nie begegnet. Ich fragte ihn weiter und da erfuhr ich ein Schicksal, das mich nicht mehr loslässt. Neun Kinder sind sie daheim, erzählte der Walter. Sie leben in ganz armen Verhältnissen in einem kleinen, von den Großeltern ererbtes Häuschen, draußen am Rande des Dorfes. Der Vater geht zur Arbeit, aber er vertrinkt jeden Pfennig, den er verdient. Das Schlimmste ist, auch die Mutter war dem Alkohol verfallen. Wenn die Eltern nicht ständig Bier oder Wein oder Most zu trinken haben, sind sie mürrisch und krank. Die Kinder werden geschlagen bei jeder Gelegenheit. Die Kleinen bekommen keine Milch, nur Bier und Most. Eine unbeschreibliche Armut herrscht in der Familie. Die Eltern können den Kindern nur selten ein rechtes Essen auf den Tisch stellen. Die Kleider sind unordentlich und zerrissen. In der Schule werden sie verspottet und ausgelacht. „He, da kommen die Säuferkinder. Seht nur die Bierfässer an!" So rufen die Kinder auf der Straße. Eine mitleidige Nachbarsfrau steckt den Kleinen immer wieder einen Bissen zu. Aber das ist ein Tropfen auf einen heißen Stein. Die Kinder sind ausgestoßen und verachtet. Da greift das Jugendamt ein. Walter wird von seinen Eltern weggeholt und in ein Kinderheim gebracht . Dort weiß keines der anderen Kinder von seiner Herkunft und seinen Eltern und so blüht er auf und wird ein ganz anderer. Eines Tages eröffnet ihm der Hausvater, dass er zu unserer Freizeit fahren darf. Das ist eine Freude! In kurzen Sätzen, fast stockend hatte mir Walter alles erzählt. Mir hatte es die Sprache verschlagen. Ich wußte nicht, was ich jetzt sagen sollte. Da geht nun der Walter neben mir, ein Junge, der seinen Eltern gleichgültig ist. In ihren Augen war er ein überflüssiger Esser. Er war aufgewachsen, ohne Liebe, ohne die Geborgenheit und den Frieden der Familie zu kennen. Er war ein Kind, das seine Mutter nie in die Arme geschlossen hatte, ein Junge, dem nie der Vater die Hand auf den Kopf gelegt hatte und gesagt hatte: „Mein lieber Bub!"

Wir haben in dieser Stunde Freundschaft geschlossen. Von da an haben wir manch einen Weg zusammen gemacht, auf der Freizeit, haben manches Gespräch miteinander geführt. Einmal saß ich in seinem Schlafsaal mit ihm auf der Bettkante. Da fiel mein Blick auf seinen Koffer und ich sah, dass auf der einen Seite das Schloss gewaltsam aufgerissen ist. „Du, was hast du denn mit deinem Koffer gemacht?" „Ach, da durfte ich einmal an Weihnachten zu meinen Eltern fahren. Da hat meine Mutter gewaltsam den Koffer aufgebrochen und mir meine Hemden genommen, die ich eben im Heim bekommen hatte. Sie hat die Hemden gleich verkauft für ein paar Flaschen Bier. Seither war ich an Weihnachten nicht mehr daheim." „Was tust du dann über die Feiertage?" „Nun, - ich bleibe im Kinderheim. Wo soll ich denn sonst hingehen?". Die Tage der Freizeit flogen vorüber. Ehe wir daran dachten, war der letzte Tag da. Wir mussten Abschied nehmen. Randvoll war unsere Zeit ausgefüllt gewesen. Nun sollte jeder wieder in seine Heimat fahren. Noch eine Stunde, dann würde der Omnibus kommen und uns zur Bahn bringen. Ich saß in meinem Zimmer. Da wurde leise an meine Tür geklopft. „Herein!" Zaghaft geht die Tür auf. Herein kommt — der Walter. „Nun Walter, das freut mich, dass du noch einmal kommst." Und jetzt wurde der Bub ganz verlegen. Er senkte den Kopf und sagte: „Ja, ich wollte Ihnen nur Dankeschön sagen, Herr Pfarrer. Ich habe ja gar niemand, mit dem ich reden kann, und da hab ich mich eben ganz arg gefreut, dass Sie Zeit gehabt haben für mich. Wissen Sie das, was wir in der Bibel gelesen haben diese Woche, das wird nun meine neue Richtung." — Fast schämte ich mich, denn ich wußte, dass ich noch viel mehr für den Jungen hätte tun sollen. Aber die anderen Jungen, die vielen Verpflichtungen und Vorbereitungen . . .

„Ich möchte Ihnen so gerne etwas geben," fährt er nach einer kleinen Pause fort. „Aber ich habe ja nichts, gar nichts. Aber ich will doch etwas für Sie tun. Wollen Sie nicht jetzt vielleicht Ihre Schuhe ausziehen? Ich möchte Ihnen so gerne die Schuhe einmal putzen, damit Sie sehen, wie dankbar ich bin." Ich habe die Schuhe ausgezogen und sie dem Walter gegeben. Ganz still war ich dabei. Einfach weil ich nichts sagen konnte. — Monate sind vergangen. Es ist Winter geworden. Wie von einem weißen Teppich zugedeckt sind die Straßen und Dächer unserer Stadt. Weihnachten nahte. Da habe ich dem Jungen geschrieben, er sollte zu uns kommen über das Fest. Die Fahrkarte legte ich gleich bei. Nun stehe ich an einem Morgen auf dem Bahnhof. Ein Zug fährt ein. Viele Menschen eilen den Bahnsteig entlang. Endlich finde ich, was ich gesucht habe. „Walter, jetzt freuen wir uns, dass du da bist." Und als wir am Abend des nächsten Tages unter dem Weihnachtsbaum sitzen, da strahlen die Bubenaugen heller als die Kerzen am Baum. Versteht ihr nun, warum ich diesen Buben nicht mehr vergessen kann?

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